Eltern, die nicht in „system-relevanten Berufen“ arbeiten, gewährleisten über ihre üblichen Aufgaben hinaus nun ganztägig die Betreuung, Erziehung und Beschulung ihrer Kinder. Dass das eine enorme Herausforderung ist, die eine Umgestaltung des Tagesablaufs und Neu-Einteilung der Ressourcen bedarf, ist zumindest jeder Person bewusst, die sich gerade in dieser Lage befindet. Dass es eine schiere Unmöglichkeit ist, dabei den empfundenen Anforderungen von außen und sich selbst gerecht zu werden, sollte ebenso selbstverständlich sein. Der Schlüssel dieser Zeit bedeutet: gut genug. Das gilt für Erwachsene und Kinder. Wer versucht, die Standards in allen Lebensbereichen wie vor Corona aufrecht zu erhalten, obwohl sich die Verantwortlichkeiten vervielfacht haben, droht auf lange Sicht auszubrennen. Die Rechnung ist einfach, aber nicht leicht umzusetzen. Wenn mein Alltag vor Corona bspw. von den 17h Wachzeit im Schnitt grob 8h der Arbeit, 1,5h für Wege, 2h für Versorgung und die Vorbereitung von Mahlzeiten, 0,5h für Haushaltsaufgaben/ Selbstfürsorge und 5 Stunden Betreuung der Kinder eingeräumt hat, ist klar, dass ich diese Aufgaben nicht gleichwertig bewältigen kann, wenn meine Kinder plötzlich 17 Stunden täglich um mich herum wuseln und ihre – durch die Krise auch noch veränderten – Bedürfnisse mitbringen.
Der Vorteil ist, dass dies alle Eltern ähnlich trifft. Natürlich macht es Unterschiede, ob die Erziehungsberechtigten einen Haushalt teilen/ anwesend sind, ganz, teilweise oder nicht arbeitstätig sind, wie viele Kinder in welchen Alters- und Entwicklungsstufen und mit welchen gesundheitlich bedingten Bedürfnissen zu versorgen sind… Die Liste ließe sich bis ins schier Unendliche erweitern. Aber eines ist klar: die allermeisten spüren derzeit eine Veränderung der Anforderungen, die ein potenzieller Stressor ist, der an den eigenen Ressourcen nagt. Dieses Verständnis ist meist leichter anderen gegenüber zu empfinden als die Empathie mit sich selbst. Daher ist ein kleiner Trick hilfreich, wenn man sich gerade mal wieder fragt: „Warum bekomme ich das alles nicht auf die Reihe?“ oder sich kritisiert: „Wenn ich das nicht packe, bin ich wohl ein schlechter Elternteil.“ Wenn du dich bei diesen oder ähnlichen Fragen/ Aussagen erwischst, stell dir einen Moment lang vor, du würdest sie von einem befreundeten Elternteil hören. Wie wäre deine Reaktion darauf? In den meisten Fällen würdest du wohl mit Mitgefühl reagieren und der Person gut zureden, oder?! Wie wäre es also, wenn du dir mit derselben Empathie begegnest und schaust, wofür deine Ressourcen gerade wirklich reichen. Das können individuell völlig unterschiedliche Lösungen sein. Vielleicht befindest du, dass es okay ist, wenn dein Sohn eine Woche lang mal nicht alle Matheaufgaben macht oder deine Tochter mehr als zwei Stunden täglich vor dem Bildschirm verbringt, um sich nicht „pädagogisch wertvolle“ Inhalte zu Gemüte zu führen, einfach, weil es euch alle entspannt, etwas Druck aus dem selbst auferlegten Stundenplan zu nehmen. Oder du merkst, dass gerade die feste Tagesstruktur das Mittel ist, das dir und deine Familie die nötige Sicherheit im neuen Alltag gibt. Hör auf deine Intuition und eure Bedürfnisse. Sie sind der beste Kompass durch diese stürmischen Zeiten.
Wenn du dir im geschäftigen Alltag eine halbe Minute nehmen kannst, um wahrzunehmen, wie anstrengend diese ganze Neuorientierung sein kann, ist es dir vielleicht auch möglich, dir vorzustellen, was es für dein/e Kind/er bedeutet, dass vieles, das vorher „normal“ war, plötzlich nicht mehr gilt. Das kann sich darin äußern, dass Wutausbrüche, Widerstand oder Langeweile, … vermehrt auftreten. So individuell wie die Persönlichkeit eines Kindes kann seine emotionale Reaktion auf Ungewissheit/ Verunsicherung sein. Auch wenn es dich an den Rande des Wahnsinns treiben mag, auch hier helfen Empathie und das Mantra des „gut genug“. Du bist für dein/e Kind/er der Anker auf dieser wilden Bootsfahrt und in Zeiten, in denen nichts sicher ist, ist es umso wichtiger, dass sie spüren, dass du sie liebst und eure Beziehung stabil ist.
Ganz praktisch könnt ihr eine für euch passende Routine entwickeln, um „dran zu bleiben“.
- Vielleicht kennst du selbst aus dem Kindergarten oder der Grundschulzeit noch einen regelmäßigen Morgenkreis oder das allwöchentliche Team Meeting von der Arbeit. Das gleiche könnt ihr als Familie einrichten, um einen festen Rahmen und geschützten Raum zu haben, um euch über Pläne, Schwierigkeiten, Wünsche, Bedürfnisse und alles auszutauschen, was euch aktuell beschäftigt (vielleicht passt auch ein Kummerkasten dazu, der dann gelehrt wird). Wichtig ist es, hier eine konstruktive Kommunikationsatmosphäre zu schaffen, die von Wohlgesonnenheit gezeichnet ist. Ihr möchtet ja gemeinsam etwas gestalten und ermöglichen. Das heißt auch, dass Kritik nicht persönlich genommen werden sondern als Grundlage für Verbesserungen dienen sollte.
- Die Kinder bekommen Stundenpläne für die Schule. Ein ähnlicher Tagesplan kann mitunter Wunder wirken, um sich in einem Alltag zu orientieren, der nicht mehr die örtliche Trennung von Schule/ Arbeit und Freizeit ermöglicht. Gemäß variabler time slots kann man bspw. bei freiheitsliebenden Kindern auch zeitliche Einheiten einführen, die sie dann nach Belieben mit Inhalten füllen. So ist klar, dass etwas geschieht und wann. Die Struktur kann die nötige Sicherheit geben, während die Frustration durch aktuell ungeliebte Aufgaben bestenfalls ausbleibt. Wenn das funktioniert, bietet es das Potenzial für eine Selbstbestimmung, die den Kids ein Gefühl von Selbstverantwortlichkeit und Mitbestimmungsrecht gibt, was in manchen Schulen nicht möglich, aber sehr zuträglich in puncto Zufriedenheit sein kann.
- Emotionale „Ausreißer“ können als Chance genutzt werden, um sich über Gefühle auszutauschen und damit die Achtsamkeit zu schulen. Das klingt erstmal schön, aber es ist eine riesige Herausforderung, sich ruhig mit einem Kind auseinander zu setzen, wenn es gerade wie wild schreit und drum herum eh schon alles liegen bleibt und die gefühlten & realen Anfoderungen an den eigenen Nerven zerren. Ich möchte dennoch den Raum dafür öffnen, die Schwierigkeiten der aktuellen Lage auch als Chance zu sehen. Dadurch, dass Eltern und Kinder sehr viel mehr Zeit miteinander verbringen, entsteht die Möglichkeit, sich auf ganz andere Art kennen zu lernen. Wenn ich einräume, dass es gerade für alle schwierig ist, bildet das die Basis dafür, das beste daraus zu machen. Der Austausch über schwierige Gefühle kann mindestens genauso verbindend und beziehungsstärkend sein wie gemeinsames Lachen. Ganz nebenbei merken deine Kinder, dass es okay ist, schwierige Gefühle zu haben und sie zu teilen. Die beste Grundlage dafür, dass sie sich dir auch im Teenager-Alter mitteilen und anvertrauen statt sich unverstanden zu fühlen und in den Widerstand zu gehen.
Auch wenn es zuerst noch mehr mentale und zeitliche Ressourcen fordert, neue Gewohnheiten zu implementieren, kann sich der Aufwand langfristig lohnen. Die Hauptsache ist dabei, dass du auf die individuellen Bedürfnisse deiner Familie eingehst und schaust, was für euch funktioniert. Auch hier gilt: Es reicht, wenn es gut genug ist. Das letzte, was du in schwierigen Zeiten brauchst, ist noch mehr Druck durch selbst auferlegte Erwartungen. In diesem Sinne – kommt gut (genug) durch die stürmische Zeit und genießt die neuen Möglichkeiten!
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