Corona stellt auch unsere Begrüßungskultur auf den Kopf. Das Land der Händeschüttler gibt sich Air Fives (High Five ohne Berührung), klatscht sich mit den Füßen ab oder winkt aus zwei Metern Distanz. Diese Umstellung ist zum einen schwierig, bietet zum anderen aber auch eine Chance, Kontakte individuell passender zu gestalten.
Gerade für Menschen, die allein leben, ist physischer Kontakt dieser Tage potenziell Mangelware. Das kann enorme Auswirkungen auf die Psyche haben, was oft unterschätzt wird. Nicht umsonst gibt es für Menschen, die z.B. sozial, alters- oder krankheitsbedingt keine Partner*innen für den physischen Kontakt haben, mittlerweile u.a. Kuschel- oder Streichelgruppen. Auch wenn derlei Angebote oft belächelt werden, haben sie doch eine wichtige Funktion. Physische Nähe ist nicht nur gefühlt, sondern auch auf neuronaler und hormoneller Ebene nachweislich wichtig für unser Wohlbefinden und unsere Funktionalität.
Im Beitrag Corona & Freiraum bin ich auf die Möglichkeit eingegangen, sich des Körpergedächtnisses zu bedienen, um das Gefühl physischer Nähe aus zurückliegenden Erlebnissen abzurufen. Das kann eine Möglichkeit sein, sich trotz physischer Distanz verbunden zu fühlen, funktioniert aber nur gut, wenn es sich dabei um positive Erinnerungen handelt. Vielleicht fragst du dich jetzt, warum eine Umarmung nicht positiv sein sollte. Darum geht es in diesem Eintrag: Die Qualität von Berührungen in Beziehungen bzw. die Regulierung von physischer Nähe und Distanz.
Vielleicht erinnerst du dich an diese eine Großtante, die dir, als du Kind warst, immer in die Wange gekniffen oder dir einen viel zu feuchten Schmatzer auf die Stirn gesetzt hat. Vielleicht hast du von deinen Eltern die Anweisung gehört: „Gib dem Onkel die Hand.“, weil „man das eben so macht“. Wir wurden nicht unbedingt dazu erzogen, in uns hinein zu spüren, um zu schauen, welcher Kontakt, ob physisch oder nicht, sich eigentlich gerade für uns angemessen anfühlt. Unsere gesellschaftlichen Übereinkünfte, unsere Kultur, bestimmen darüber, wie viele Küsschen es gibt, ob die Hand geschüttelt oder sich umarmt wird oder ob man sich mit einem „Namaste“ verbeugt, um einander zu grüßen. Vieles davon nehmen wir als gegeben hin, ohne lang darüber nachzudenken. Manchmal kommt dann aber eben doch eine unangenehme Emotion ins Spiel – sei es der Ekel, wenn einem jemand einen „toten, nassen Fisch“ zur Begrüßung hin hält oder wir jemandem absolut kein Küsschen zum Gruß geben wollen oder einfach nur ein eigenartiges Gefühl, dass das so irgendwie nicht richtig passt. An dieser Stelle plädiere ich dafür, dass genau das der Gütestandard für unsere zwischenmenschlichen Begegnungen sein sollte: das Gefühl beider Parteien dazu und der kleinste gemeinsame Nenner bzgl. der Passung. Das gilt natürlich auch für alle anderen Formen des Kontakts. An dieser Stelle breche ich es vereinfachend auf das Beispiel der Begrüßung herunter.
Sicher ist es eine Herausforderung aus altbekannten Mustern auszusteigen. Wenn ich jemanden jahrelang 4,25 Sekunden fest umarmt habe, löst es ganz sicher Irritationen aus, wenn ich der Person plötzlich unkommentiert stattdessen die Hand hin halte. Es kann sein, dass sich eine Form des Kontakts jahrelang genau so stimmig angefühlt hat, jetzt aber nicht mehr passend wirkt. Beziehungen verändern sich. Bedürfnisse verändern sich oder werden individuell stärker wahrgenommen. Jemand erzählte mir kürzlich, dass er gar sozial anerkannte Ausflüchte fände, um nicht Hände schütteln zu „müssen“. Aber wer sagt eigentlich, dass wir das müssen? Ich lade dich an dieser Stelle herzlich dazu ein, das in einem ruhigen Moment zu ergründen. Sitzt dir auch der Opa mit dem Knigge (der ursprünglich übrigens als Satire auf die Bourgeoisie verfasst wurde) im Nacken? Oder ist es schlichtweg einfacher, sich den Automatismen zu fügen, als sich dem potenziellen Konflikt auszusetzen? Ich weiß, dass das nicht unbedingt angenehme Fragen sind. Vielleicht kommen dabei auch ganz andere Erinnerungen hoch, bei denen deine Wohlfühl-Grenze sehr viel massiver überschritten wurde, als durch eine unpassende Begrüßung. In diesem Fall empfehle ich, diese Erlebnisse mit einer professionellen Begleitung zu versorgen.
Einen Schritt kannst du als erwachsener Mensch aber auch in diesem Fall machen: Trenne dich von dem, was dir nicht gut tut. Das klingt jetzt vielleicht arg vereinfacht. Diese Handlung oder Änderung in der Haltung kann aber ein enormes Potenzial in dir freisetzen. Zum Vergleich: Wie wäre es zum Beispiel gewesen, wenn du dich als Kind nicht jedes Mal vorm Kaffeekränzchen mit der Familie hättest gruseln müssen? Um es in die Gegenwart zurück zu holen: Was, wenn du die Begegnungen, die du mit Menschen hast, tatsächlich in gänzlicher Fülle genießen könntest, weil du darin nur tust, was du tun möchtest?
Vielleicht stellst du für dich fest, dass diese Vorstellung in dir ein solches Wohlgefühl auslöst, dass es den potenziellen Konflikt mit der langjährigen Freundin vielleicht wert ist. Wenn das nicht so ist: auch okay!
Es geht darum, dass du dich wohl fühlst.
Wenn es zum Gespräch kommt, hier ein paar Vorschläge, wie es gut funktionieren kann: Bleib bei dir! Wenn du davon sprichst, dass dich etwas stört, beschreibe, was es mit dir macht, nicht, was die andere Person „falsch“ macht. Überlege dir am besten vorher, was für dich alternativ stimmig wäre oder schlage vor, dass ihr es gemeinsam spielerisch ergründet.
Auch wenn es vielleicht trivial klingen mag: Es gibt auch andere Formen, sich nah zu sein als physischen Kontakt. Es scheint paradox, aber wenn du dich jemandem anvertraust, dass du mehr physische Distanz brauchst, kann das die Beziehung auf emotionaler Ebene sogar vertiefen. Das Ganze funktioniert am besten, wenn ihr beide zu jeder Zeit wisst, dass es keinen guten/ richtigen oder schlechten/ falschen Weg gibt, sondern dass jede*r von euch individuelle Prägungen und Bedürfnisse hat, die nicht automatisch gut zusammen passen. Das ist niemands Schuld! Es liegt in euer beider Verantwortung, eure jeweiligen Gefühle und Bedürfnisse für sich wahrzunehmen und die des/der anderen zu respektieren.
An dieser Stelle eine Warnung: Solltest du schon vorab Fantasien dazu haben, dass all das total nach hinten los gehen und du dich in einem Konflikt wieder finden könntest, der plötzlich um weit mehr geht als eine Begrüßung, ist diese vielleicht nur ein Hinweis auf ein tiefer liegendes Thema in dir oder besagter Beziehung. Auch hier kann eine Reflexion mit professioneller Begleitung helfen, in jedem Falle aber die grundsätzliche Haltung: Du bist okay, so wie du bist. Deine Gefühle haben eine Berechtigung. Du bist es wert, nährende Beziehungen zu leben.
In diesem Sinne wünsche ich dir frohes Forschen, achtsames Regulieren und dass du in den vollen Genuss deiner Beziehungen kommst!