Über die letzten Wochen gab es erste Lockerungen als Reaktion auf sinkende Reproduktionszahlen und die lauter werdenden kritischen Stimmen in der Bevölkerung bzgl. der Maßgaben der Regierung. Die Schere, die sich schon vorher zwischen dem Fokus auf der Freiheitsauslebung und dem Erhalt von Sicherheit abzeichnete, verbreiterte sich daraufhin zunehmend. Wer nach wie vor sehr konservativ verfahren, das heißt viel Zeit in den eigenen vier Wänden verbringen, Kontakte beschränken und Abstand halten möchte, kollidiert umso mehr mit denen, die die wieder gewonnenen Freiheiten genießen. Im Prenzlauer Berg fühlt es sich an einem sonnigen Nachmittag draußen an, als hätte es Corona nie gegeben. Ich habe Schwierigkeiten überhaupt 30cm Abstand zu halten, auch wenn ich selbst größere Abstände einzuhalten versuche. Auch unter normalen Umständen liegt diese Nähe zu vorbei huschenden Joggern und Radlern schon außerhalb meiner Komfortzone, in Anbetracht einer potenziellen, unsichtbaren Bedrohung ist es umso unangenehmer auf das Verhalten anderer angewiesen zu sein. In dieser spezifischen Situation finde ich mich aus persönlichen Gründen in der Gruppe derer, die Vorsicht walten lassen. Das ist ungewöhnlich für mich, aber es ist zugleich eine gute Lehre, wie es ist, gefühlt nicht der Mehrheit anzugehören und von den Entscheidungen anderer abhängig zu sein. Ob ich damit faktisch einer Minderheit angehöre, ist ungewiss, da diejenigen, die ähnlich vorsichtig sind, natürlich auch weniger auf den Straßen sichtbar sind. Somit kann ich nur von dem ausgehen, was ich in der Öffentlichkeit wahrnehme: Als Mensch, der große Schlängellinien zieht, bin ich gerade eher ein Exot.
Ich habe aus der Überzeugung heraus, dass jeder Mensch seine persönliche Motivation und sein Recht auf Selbstbestimmung hat, beschlossen, dass meine erste Reaktion das Ausweichen bleibt, solange das möglich ist. Wenn das nicht so ist, bitte ich das Gegenüber freundlich um den Raum, verzichte aber auf Belehrungen oder dergleichen. Meist funktioniert das gut. Wenn es doch auf ein Gespräch mit jemandem hinaus läuft, der/die einen anderen Standpunkt vertritt, kann das in verschiedene Richtungen gehen, je nach Tagesform und anderen Faktoren beider Gesprächsparteien. (Etwas mehr dazu findest du im Beitrag Wie verhalte ich mich richtig?)
An dieser Stelle möchte ich anhand eines positiven persönlichen Beispiels auf Faktoren eingehen, die einen konstruktiven Kontakt begünstigen können. Das trifft nicht nur auf das Thema Corona zu, kann aber besonders in potenziell angespannten Kontexten, wie wir sie derzeit erleben, hilfreich sein.
Ich unterhielt mich kürzlich mit einem Vertrauten, der zur „anderen“ Gruppe gehört. Er ist viel unterwegs und für ihn stellt der Virus glücklicherweise keine Bedrohung dar. Das gibt ihm die Möglichkeit, sich für die Grundrechte einzusetzen und ein Zeichen zu setzen, dass die Beschlüsse und Einschränkungen, die in der aktuellen Situation vorgenommen wurden, später auch wieder zurück genommen bzw. neu evaluiert werden sollen. Ich hatte zugegebenermaßen Bedenken – zum einen, dass er mit Gruppierungen assoziiert werden könnte, die nicht seiner Haltung und politischen Gesinnung entsprechen; zum anderen, dass Protestaktionen – so friedlich sie auch ablaufen mögen – als weiterer potenzieller Infektionsherd dienen könnten… und zu guter Letzt war da eine leise Stimme die befürchtete, dass er kein Verständnis für meine Position haben könnte.
Ich bin sehr froh, dass das Gespräch eine andere Wendung nahm und möchte gern teilen, wie das aus meiner Sicht möglich war. Die Grundlage dieses Austauschs war gegenseitiger Respekt und dass wir einander wohlgesonnen sind. Wir stellten uns aufrichtig interessierte, offene Fragen, nahmen die Antworten mitfühlend auf und bewerteten diese, auch wenn sie unterschiedlich waren, nicht negativ. Beide hatten wir keine Agenda, uns gegenseitig überzeugen zu wollen, weil wir unseren Standpunkt für den einzig richtigen hielten. Dadurch eröffneten wir uns die Möglichkeit, ein Verständnis für die jeweils andere Seite zu erlangen. Auch wenn wir nach wie vor unterschiedliche Standpunkte haben, fühlten wir uns durch das Teilen verbunden und beschenkt. Im Rahmen unserer Möglichkeiten und Überzeugungen tun wir beide gerade das, was für uns wichtig ist.
Ich teile diese sehr persönliche Erfahrung, weil ich beobachte, wie gerade verschiedene Stimmen laut werden und mindestens genauso viele Gegenstimmen abwertend darüber urteilen. Ich wünsche mir, dass die Stimmen, die durch schwierige Emotionen wie Angst und Verunsicherung geschürt werden (mehr dazu im Beitrag Kopf und Körper im Krisenmodus), abgeholt und integriert werden, statt sie gesellschaftlich zu marginalisieren. Ist es nicht das, was eine Demokratie ausmacht? Gerade in Zeiten, in denen vieles ungewiss ist, wäre es ein Gewinn für alle, gemeinschaftliche Lösungen zu finden, die es schaffen, auch die einzubeziehen, die unangenehmes aussprechen. Ob der Inhalt „wahr“ oder „richtig“ ist, sei dahingestellt. Als ich besagten Gesprächspartner vor der Veröffentlichung dieses Beitrags fragte, ob er sich darin gesehen und damit gut fühle, antwortete er, dass sich durch den Konsens in der Haltung trotz des Dissens in der gezeigten eigenen Subjektivität ein scheinbarer Widerspruch auflöse. Würden wir uns nicht alle wohler fühlen, wenn wir in einer Gesellschaft lebten, in der gegenseitiger Respekt, ein offenes Ohr und Zugewandtheit über der Deutungshoheit von wahr oder falsch stünden?
Du und ich können heute damit beginnen eine solche Kultur zu schaffen – indem wir uns in jedem einzelnen Kontakt mit unseren Mitmenschen für eine Haltung aus Respekt, Offenheit und Zugewandtheit entscheiden.