Selbst ohne Fernsehgerät, Radio oder das bewusste Suchen von informativen Beiträgen ist die Konfrontation mit Corona-Themen beinah unumgänglich. Wer nicht gerade in kompletter Selbst-Isolation oder auf dem Land lebt, wird merken, dass Gespräche wieder und wieder auf das Thema schwenken. Nur verständlich, da uns zumindest die Maßgaben durch die Regierung mehr oder weniger betreffen. In der Welt des Internets geht auch an ungewohnten Stellen ab und an ein Info-Fenster auf, das mich in verschiedenen Sprachen erinnert, mir gründlich die Hände zu waschen, Abstand zu halten und nun auch Maske zu tragen.
Ich kenne das Gefühl, müde davon zu sein und sehe nicht selten Reaktionen wie Wut oder Ohnmacht. Vielleicht hast du bei dir auch schon die eine oder andere unübliche Emotionalität beobachtet, bist etwas dünnhäutiger, gereizter als sonst oder manchmal einfach nur wie betäubt. All das ist in diesem Ausnahmezustand, der mittlerweile immerhin schon mehrere Wochen anhält, völlig normal. Vielleicht hast du bemerkt, dass das Ganze verschiedene Phasen bei dir durchlaufen hat, die eventuell auch wiederholt auftauchen. Vielleicht frustriert es dich auch, dass so manches Gefühl (wiederholt) auftritt oder sehnst dich einfach nur nach einer anderen Normalität.
Ich möchte heute auf die Funktion dieser Gefühle eingehen, da es mitunter helfen kann, sich etwas von ihnen zu distanzieren, um sie annehmen zu können.
Zuerst einmal: Du hast Gefühle. Selbst wenn diese für eine Weile das Kommando zu übernehmen scheinen, bist du aber viel mehr als nur das aktuelle Gefühl. Das klingt vielleicht banal, ist aber essentiell in der Wahrnehmung dessen, wie viel Raum die Emotionen einnehmen und wie viel Macht sie über dich haben.
Auf das Gefühl der Ohnmacht bin ich im Eintrag Kopf und Körper im Krisenmodus bereits eingegangen. Hier daher nur soviel: Als Mensch, der Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit als Selbstverständlichkeit ansieht, kann mich ein plötzliches Regelwerk samt streng einschränkenden Vorgaben, ganz fix in ein Gefühl bringen, das an die frühe Kindheit oder andere Zeiten erinnert, in denen diese Freiheit nicht gegeben war. Das können eigene und generationsübergreifende Erfahrungen sein, die mir nicht zwangsläufig bewusst sind. Es kann aber helfen, das Gefühl erst einmal anzuerkennen, wenn es da ist und empathisch mit sich zu sein, statt das unangenehme Gefühl direkt abschütteln zu wollen.
Vielleicht hast du dich in letzter Zeit auch dabei ertappt, ungewöhnlich oft wütend zu sein. Diese Energie ist meist angenehmer als die Ohnmacht, da sie sich leichter in Gestaltungsenergie umsetzen und die eigene Kraft spüren lässt. Da Wut in unserer Gesellschaft ein eher marginalisiertes Gefühl ist, kann es sein, dass es dir schwer fällt, sie anzunehmen und als Kraftquelle wertzuschätzen. Vielleicht merkst du aber auch, dass sie dir Antrieb gibt und dich die 5km in kürzerer Zeit laufen lässt. Eine andere Art des Umgangs mit der Wut kann der Widerstand sein, der sich zum Beispiel im (mehr oder weniger öffentlichen) Mobilisieren anderer gegen die Vorschriften oder das eigene Untergraben der Regulierungen äußern kann. Das kann sehr stärkend auf den Gemeinschaftssinn wirken, aber auch Beziehungen sprengen, wenn die Adressaten bspw. anderer Meinung sind oder durch die überschwappende, heftige Energie der Wut stark gefordert sind. Falls du dich manchmal in letzterer Position erlebst, gebe ich dir im Beitrag Wie gehe ich mit Dünnhäutigkeit um eine Meditationsübung dazu an die Hand.
Im Orientierungsseminar habe ich am 1. Mai mit Tanja Hetzer zu eben diesem Thema mit Teilnehmenden verschiedener Hintergründe gearbeitet: Statt sich zu polarisieren, den Widerstandsimpuls für die eigene Entwicklung nutzen. Was fast zu gut klingt um wahr zu sein ist eine der Kernkompetenzen der Prozessarbeit: was mich stört oder mir das Leben schwer macht, kann eine Quelle der Energie sein, wenn ich mir einen Moment nehme, es als Chance zu betrachten.
So haben wir uns die Widerstandsenergie genau angeschaut, mit dem ganzen Körper gespürt und zum Ausdruck gebracht. Vielleicht hast du Lust, das auch einmal auszuprobieren. Wenn du die Energie in einem geschützten Rahmen für dich ausagierst, wirst du vielleicht merken, dass sich bereits etwas verändert. Wenn ich daraufhin zum Zeitpunkt kurz vor dem Widerstandsimpuls zurück kehre, gebe ich mir die Chance zu spüren, was mich eigentlich getroffen hat. Der Widerstand kommt nicht einfach so auf – er hat eine wertvolle Funktion. Wenn ich den betroffenen oder verletzten Teil in mir betrachte, zeigt sich etwas anderes. Gebe ich auch dieser Seite meine volle Aufmerksamkeit, dann kann etwas neues aus dem Zusammenspiel dieser zwei Gefühle entstehen. Das gibt mir die Chance, die Situation aus einer neuen Perspektive zu betrachten und schafft mehr Beweglichkeit und damit auch Gestaltungsfreiheit.
Bist du auch schon in Situationen geraten, in denen sich deine Nackenhaare gesträubt haben? Wie gehst du konstruktiv mit Wut und Widerstand um?