Wie gestalte ich Beziehungen?

Corona fordert uns mit den neuen Maßgaben bzgl. physischer Nähe dazu heraus, unsere kulturell anerzogenen Normen neu zu adjustieren. Bei Menschen, die einem gewöhnlich einen „feuchten, toten Fisch“ zur Begrüßung entgegen strecken, mag das eine angenehme Veränderung sein; Wenn ich geliebte Menschen aber plötzlich nicht mehr innig umarmen kann, ist das schon eine ganz andere Sache. Auch wenn die persönlichen Vorlieben dazu weit auseinander gehen – für uns alle heißt es, gemeinsam eine neue Kultur darin zu finden, was angemessen, respekt- und rücksichtsvoll ist.

 

Dabei bieten zum einen die wissenschaftlich fundierten Maßgaben zu Hygienestandards einen Anhaltspunkt, zum anderen sind aber du und ich individuell gefordert, zu spüren, was jeweils für uns selbst gerade stimmig ist. An diesem Punkt wird es komplex – eben genau so komplex wie Beziehungen und die aktuelle Situation es eben sind. Zu der Komponente, welche Nähe oder Distanz sich je nach Person für mich gut anfühlt, kommen derzeit noch Abwägungen darüber, welcher Beschäftigung die andere Person vielleicht nachgeht, wie viele Kontakte sie hat und als wie gefährdet ich mich und meine Liebsten gerade einschätze und anders herum. Da kann einem die Lust auf face-to-face-Kontakt schon beinah gänzlich vergehen, wenn eine sonst automatische und einfache Begrüßung plötzlich Kopfschmerzen bereitet. Meist laufen diese ganzen Prozesse nicht bewusst ab. Dann wundere ich mich nur, warum die Stimmung mit der Person, die ich gerade getroffen habe, irgendwie komisch oder angespannter war als sonst oder mich etwas am Verhalten der anderen Person genervt oder verärgert hat. Wenn ich mir aber vor Augen führe, welche Prozesse dabei gerade in mir ablaufen, wird es vielleicht etwas klarer.

Es ist normal, dass wir uns als Angehörige einer Spezies, deren Überleben noch vor wenigen Jahrhunderten von der Zugehörigkeit zu einer Gruppe abhängig war, am äußeren Umfeld orientieren, wenn es darum geht, sich eine Meinung zu bilden. Vielleicht hast du gemerkt, dass es insbesondere zu Beginn der Krise eine Art Abtasten gab, wer wozu wie steht. Mittlerweile bedeutet der Ausschluss aus einer Gruppe oder schlichtweg eine Uneinigkeit mit den Nächsten nicht mehr, dass wir in existenzielle Not geraten. Diesen Luxus können wir nutzen, uns unserer eigenen Bedürfnisse und Grenzen bewusst zu werden. Was ist MIR gerade wichtig? Wie sicher fühle ich mich? Was halte ich anderen gegenüber für zumutbar, sodass ich meine Integrität behalte? Welche Form von Kontakt fühlt sich für mich gerade verbunden, sicher und machbar an? u.v.m.


Zweifelsohne befinden wir uns in einer Zeit, die uns durch ihre Komplexität und stetige Veränderung herausfordert. In diesen und anderen Fragen steckt aber auch eine Chance: Beziehungskontakte, die vielleicht vorher nicht ganz stimmig für dich waren, neu zu regulieren. Das kann heißen, wöchentliche „Pflichtanrufe“ auf ein angenehmes Maß zu reduzieren oder festzustellen, zu wem mir der Kontakt eigentlich derart gut tut, dass ich ihn intensivieren möchte. Auch wenn es in den meisten Fällen nicht einfach ist, vor allem dauerhafte Kontakte neu zu regulieren, ist nun ein Anlass gegeben, der dazu einlädt, Beziehungen bewusster zu gestalten und damit mehr Lebenszeit dem zu widmen, was dir gut tut!


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