Kopf und Körper im Krisenmodus

Ich höre derzeit viele Menschen sagen, sie „schaffen nicht so viel wie sonst“ oder, was sie sich vorgenommen hätten. Die eine Ebene darin ist, realistisch mit der Steigerung an Anforderungen umzugehen, wie im Beitrag zu Überforderung beschrieben. Die andere Seite dessen ist, Empathie für sich und andere darin zu entwickeln, dass wir uns in einer außergewöhnlichen Zeit befinden, auf die wir eben völlig angemessen außergewöhnlich reagieren. Ohne auf die Körperprozesse einzugehen, die dem zugrunde liegen (das können andere sehr viel besser), möchte ich an dieser Stelle darauf aufmerksam machen, welche Auswirkungen der derzeitige Krisenmodus auf unsere Wahrnehmung und unser Verhalten haben kann. Ich denke, dass ein grobes Verständnis dessen eine gute Basis für mehr Mitgefühl mir selbst und anderen gegenüber in dieser besonderen Situation bilden kann. An dieser Stelle weise ich darauf hin, dass ich die Zusammenhänge bewusst stark vereinfache, um wesentliche Mechanismen verständlich zu machen.

 

Wir erleben derzeit zum ersten Mal seit langem eine Krise, deren Auslöser nicht nur unter normalen Bedingungen unsichtbar und damit schwer zu fassen ist, sondern die auch noch weltweite Folgen nach sich zieht, für die kein direkter Verantwortlicher gefunden werden kann. Das kann zu einer Solidarisierung und Wahrnehmung als eine Erdbevölkerung führen, es kann aber auch überwältigend wirken und ein Gefühl von Macht- und Hilflosigkeit hervorrufen. Das muss nicht immer völlig bewusst sein. Gerade in der westlichen Gesellschaft sind wir gut darin geschult, unser stabiles Selbstbild aufrecht zu erhalten, das von Eigenbestimmung und Kontrollfähigkeit gezeichnet ist. Dieses Bild kollidiert aktuell u.a. mit den Maßgebungen der Regierung, die uns in beidem einschränken. Die Spannung, die dadurch in uns entsteht, ist kein angenehmes Gefühl, weswegen wir automatisch versuchen, etwas daran zu ändern. Das kann sich darin zeigen, dass wir Kritik gegenüber den Maßnahmen äußern oder darin, dass wir uns auf andere Lebensbereiche konzentrieren, über die wir tatsächlich Kontrolle haben. Nicht umsonst misten gerade viele die eigenen vier Wände aus oder renovieren und werkeln, was der Baumarkt her gibt. Spätestens, wenn die Wohnung blitzblank, ausgeräumt und renoviert, alle Bücher nach Farben und Autoren sortiert sind und die Steuererklärung gemacht ist, kehrt aber etwas Ruhe/ Leere ein, die diesen faden Beigeschmack hat. An dieser Stelle ist der Ausgleich über verändertes Verhalten keine schnell verfügbare Option mehr. Eine Möglichkeit ist es, sich dem unangenehmen Gefühl, das sich auf viele Arten zeigen kann, bspw. als Langeweile, Gereiztheit oder Mattheit, auf die Schliche zu kommen. Normalerweise versuchen wir, die sogenannten „negativen“ Emotionen möglichst gering zu halten. Wenn wir sie aber weg schieben, tauchen sie meist an Stellen wieder auf, an denen sie uns noch mehr stören als zuvor. Ich vergleiche Gefühle in diesem Sinne gern mit bockigen Kindern: wenn man sie ignoriert, werden sie meist umso lauter. Insofern können die Einschränkungen im Außen eine günstige Gelegenheit sein, hin zu spüren, was eigentlich gerade in uns passiert. Der erste Schritt kann sein, dass du meine am Anfang gestellte These für dich prüfst: Könnte es sein, dass du dich manchmal etwas ohnmächtig fühlst oder als ob du die Kontrolle verlierst? Falls du dem zustimmen kannst oder andere Gefühle auftauchen, die du eigentlich lieber nicht hättest, kannst du es wie mit dem Bild des Kindes halten, dem du dich liebevoll zuwendest, statt es zu ignorieren: Versuche, Verständnis dafür zu haben, dass sich diese Emotion gerade zeigt und dass sie in Anbetracht der Situation angebracht ist. Diese Empathie mit dir kann dazu führen, dass sich innerlich etwas beruhigt und vielleicht sogar verändert.

 

Vielleicht bemerkst auch du aktuell Veränderungen in deiner Leistungsfähigkeit, zum Beispiel, dass dein Gedächtnis schlechter ist als üblich oder es dir schwerer fällt, dich zu konzentrieren oder zu strukturieren. Auch hier kann es hilfreich sein, nachsichtig mit sich selbst zu sein. Durch die massiven Veränderungen vieler Dinge, die sonst normal und selbstverständlich wären, ist unser Gehirn gefordert, sich außerhalb seiner üblichen Komfortzone zu bewegen. Das ist ungefähr so, als würdest du in einem kulturell anders geprägten Land unterwegs sein. Vielleicht hast du auf einer Reise schon einmal festgestellt, dass du abends sehr müde warst und das z.B. mit dem Sprechen einer Fremdsprache begründet. Tatsächlich leisten wir gerade eine ebenso große Anpassungsleistung, da die üblichen kulturellen Normen nicht mehr gelten: der „angemessene“ Abstand zu anderen Personen, üblicherweise machbare Gänge im öffentlichen Raum, Regeln und Verfügbarkeiten sowie die Kommunikation. All das sind Dinge, die wir beinah nebenbei neu lernen und deren kognitiver Aufwand nicht zu unterschätzen ist. Hinzu kommt der latente Stress, der durch die Veränderungen des Alltags und die oben beschriebenen Emotionen auf uns wirkt. Dadurch kann es sehr gut sein, dass wir eine kürzere Zündschnur haben oder versuchen, unser Gefühl von Kontrolle dadurch wieder zu erlangen, dass wir in Gesprächen Recht behalten. Vielleicht hast du dich auch schon gefragt, warum du oder Menschen in deinem Umfeld gerade anders als üblich (re-)agieren. Anstatt das persönlich zu nehmen oder streng zu urteilen, kannst du schauen, ob eine Portion Mitgefühl die Situation entspannen kann. Damit meine ich nicht, der anderen Person zu erklären, sie sei gerade machtlos. Damit wirst du aller Wahrscheinlichkeit die entgegengesetzte Reaktion von dem erreichen, was du bewirken wolltest (wem wird schon gern gesagt, dass er die Kontrolle verloren hat?). Vielmehr kann du dich innerlich mit deinem Gefühl von Empathie verbinden und die Situation liebevoll statt kritisch betrachten. Ich lade dich dazu ein, diese Strategie auszuprobieren und zu beobachten, was es verändert.

 

Eine weitere Folge dessen, dass sich gerade unsere Umwelt und Wahrnehmung verändern, kann sein, dass wir alte Normen hinterfragen. Das kann, wie im Eintrag zum Thema Überforderung beschrieben, wahnsinnig hilfreich sein und große Potenziale frei setzen! Wenn es um große Lebensentscheidungen geht, kann es allerdings in Anbetracht der veränderten Wahrnehmung sinnvoll sein, statt der üblichen einen Nacht lieber eine Woche darüber zu schlafen. Bekanntlich sind Entscheidungen, die unter Stress getroffen werden, rückblickend nicht immer die besten. Wenn du dich mitfühlend darin annimmst, dass du gerade im Ausnahmezustand bist, kannst du dir vielleicht etwas zusätzliche Zeit schenken, große Entscheidungen noch einmal zu überdenken, bevor du Konsequenzen ziehst.

 

Hast du Anregungen oder Ideen dazu, wie du konstruktiv mit dem Krisenmodus umgehst? Ich freue mich über eine Mail von dir!

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